Mysterien im Hauptbahnhof?

Mysterien im Hauptbahnhof?

„Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt, nicht im Goetheanum.“

Dies sagte Joseph Beuys in einem Spiegel-Interview im Jahre 1984, in dem er auf seine Beziehung zur Anthroposophie angesprochen wurde. Dass die Mysterien nicht im Goetheanum stattfinden, ist mir schon klar. Aber ist das eine Garantie dafür, dass sie im Hauptbahnhof stattfinden? Ich beschließe, die Probe aufs Exempel zu machen und die Aussage von Beuys im realen Leben zu überprüfen.

Eckernförde hat zwar nur einen kleinen Bahnhof, auf dem weniger los ist als an einer Straßenbahnhaltestelle einer Großstadt, selbst wenn man den angrenzenden Busbahnhof dazu rechnet, aber da es der einzige im Städtchen ist, nenne ich ihn hier den Hauptbahnhof. Ich wohne direkt gegenüber dieser modernen Mysterienstätte, schon seit gut drei Jahren, aber jetzt erst wird mir bewusst, dass ich diese Gelegenheit, die Erleuchtung direkt vor der Haustür abholen zu können, bisher gar nicht genutzt habe. Nun bin ich wild entschlossen, dieses Versäumnis nachzuholen und meine spirituelle Entwicklung auf dem Hauptbahnhof von Eckernförde voranzubringen.

Damit keine falschen Vorstellungen von diesem Gebäude entstehen, begnüge ich mich im Folgenden wohl doch lieber mit der Bezeichnung Bahnhof. Es ist ein kleines einstöckiges Flachdachgebäude, in dessen Mitte sich eine achteckige Wartehalle befindet. Auf der einen Seite schließt sich das „Reisezentrum“ an, ein winziger Schalterraum, gegenüber befindet sich ein Bistro mit kleiner Buchhandlung und „Pressecenter“. Die Gleisanlagen sind extrem überschaubar: die eingleisige Strecke erweitert sich hier auf zwei Gleise und ein kaum benutztes Ausweichgleis. Noch überschaubarer ist der stattfindende Verkehr: Einmal stündlich hält ein Zug auf dem Weg von Kiel nach Flensburg und einmal in der Gegenrichtung. Zu Berufsverkehrszeiten gibt es dazwischen noch eine Verbindung von Eckernförde nach Kiel und zurück.

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Ich habe zwar noch keine Idee, in welcher Weise mich an einem so unspektakulären Ort die Erleuchtung treffen könnte, aber ich ahne zumindest, dass die wichtigste Vorbereitung dafür darin besteht, selber offen und ohne Vorurteile zu sein, im Herzen die Frage, welche neuen Lernschritte und Geschenke das Leben für mich bereit hält. So mache ich mich nun auf den Weg, der höchstens fünfzig Meter lang ist, überquere die Straße und den Bahnhofsvorplatz, öffne die Tür zur Wartehalle und warte. Mein Blick wandert umher. Durch die gläsernen Wände sind die Gleisanlagen und dementsprechend die ein- und ausfahrenden Züge gut sichtbar. Einige Menschen sitzen in der Halle, andere stehen draußen und warten. Ich warte ebenfalls, aber nicht auf einen Zug, sondern auf die von Beuys versprochenen Mysterien.

Der Eckernförder Künstler „fognin“ findet, dass mein Vorhaben, hier die Erleuchtung zu finden, schon an der Prämisse krankt. Er besteht darauf, dass Beuys eindeutig von einem Hauptbahnhof sprach und nicht von einem „optisch hochfrisierten Haltepunkt“, der seiner Meinung nach aus Eckernförder Minderwertigkeitskomplexen heraus Bahnhof genannt wird. Er sagt:

„Kiel hat einen Bahnhof. Hamburg einen Hauptbahnhof. Die Mysterien finden in Hamburg, Berlin und Hamm statt (Degenhardt). Hier gibt es nur Mysterienen. In Kiel Mysterchen. Aber in Hamburg, da wirst du knallhart eingeweiht! Ob du das so willst, ist eine andere Frage.“

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Meinen Einwand, dass ich auf meinen unzähligen Reisen gen Süden den Hamburger Hauptbahnhof mehr als gründlich kennengelernt habe, ohne eine knallharte Einweihung zu erleben, lässt er nicht gelten. Das ginge nun mal nicht so einfach auf einer Durchreise, da müsste ich schon einen ganzen Tag verbringen und zudem noch innerlich ganz auf die Erleuchtung ausgerichtet sein. Mag sein, dass mir ein ganzer Tag im Hamburger Hauptbahnhof tatsächlich aufregende Grenzerlebnisse bescheren würde, aber mal ehrlich:

Ist die Behauptung, die Mysterien würden nur an einem Hauptbahnhof stattfinden, nicht genauso absurd und illusorisch wie die Annahme, sie würden im Goetheanum stattfinden?

Ich meine, der Geist weht wo er will, er lässt sich an keinen Ort fixieren, und warum sollte er nicht an einem zweigleisigen Haltepunkt wehen? Ich habe mir schon vor Jahren auf meinen inneren Wunschzettel geschrieben: Ich möchte immer dort sein, wo der Geist gerade weht, die Liebe fließt, die Arbeit wartet und ich genährt werde. Wenn es keinen äußeren Ort gibt, der diese Kriterien erfüllt, ist eben die Reise nach innen angesagt. Dann ist es in meine Verantwortung gestellt, den Geist wehen und die Liebe fließen zu lassen, an mir zu arbeiten und für mich zu sorgen.

Was treibt mich also jetzt an diesen hochfrisierten Haltepunkt, wenn ich nicht wirklich daran glaube, dass die Erleuchtung überhaupt von einem bestimmten Ort abhängig ist?

Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht!

Und Nicht-Wissen ist wohl die beste Voraussetzung für ein Experiment ohne Fixation auf ein bestimmtes Ergebnis…

(Fortsetzung folgt)

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