Mysterien im Hauptbahnhof? Teil 2

Warten

Eine Woche ist mit Warten vergangen. Dass die Fortsetzung meiner Geschichte auf sich warten ließ, hat den einfachen Grund, dass Warten im Moment das Thema schlechthin ist. Der Bahnhof als Schauplatz meiner Suche nach Mysterien entpuppt sich als phantastischer Ort, um die Mysterien des Wartens zu ergründen.

Es ist zehn Uhr vormittags und buchstäblich gar nichts los an unserem zweigleisigen Haltepunkt. Gähnende Langeweile! Keine Mysterien in Sicht. Nach einer Weile frage ich mich, worauf ich eigentlich genau warte. Was meinte Beuys mit Mysterien? Paranormales, Grenzwissen, kultische Feiern mit geheimem Kern, Einweihungsriten?
Eine Leserin schrieb mir, dass es für sie total neu ist, dass das Erleben oder Entdecken von Mysterien das gleiche wie Erleuchtung sein soll. Eigentlich wollte ich mich an dieser Stelle nicht auf komplizierte Begriffsdefinitionen einlassen, aber ich merke, dass ich ihr Recht geben muss und eine Differenzierung vielleicht auch meiner Suche förderlich sein könnte.

Das Wort Mysterien deutet auf Geheimnisvolles und Rätselhaftes hin. Die Mysterienschulen alter Kulturen waren Orte, an denen ausgewählten Menschen Wissen vermittelt wurde, das für die Allgemeinheit nicht zugänglich war. Man sprach von Einweihung in geheimes Wissen, in magische Fähigkeiten, in spirituelle Praktiken, die oft auch mit bestimmten Aufgaben und Machtpositionen einhergingen. Zumeist waren es Priester oder Herrscher, die man als Vertreter des Göttlichen verehrte, denen man vertraute und folgte. Mich überkommt ein leises Unbehagen bei den Worten Mysterienwissen und Einweihung, eben weil beides vielfach mit Macht und Machtmissbrauch einherging, mit hierarchischen Strukturen und erstarrten Überlieferungen.

Unter Erleuchtung stelle ich mir wirklich etwas anderes vor, nämlich einen Menschen, dessen Lebenswandel von Achtsamkeit und „Nicht-Anhaftung“ am materielle, emotionale oder mentale Strukturen geprägt ist, jemand, der von seiner eigenen Göttlichkeit so durchdrungen ist, dass er leuchtet. Dazu braucht man nicht unbedingt über geheimes Wissen zu verfügen. Da geht es mehr um bedingungslose Liebe, um inneren Frieden und Einssein mit sich und der Welt, um Vereinigung mit dem Göttlichen, die sich in einer reinen, klaren, harmonisierenden Ausstrahlung manifestiert. Viele christliche Mystiker waren in diesem Sinn erleuchtet, auch viele einfache Menschen, die in Hingabe und Liebe dem Geistigen verbunden sind. Ich denke, dass Mysterien-Einweihung und Erleuchtung sich nicht unbedingt ausschließen müssen, sondern sich gut ergänzen können. Wissen kann Tore zu neuen Erfahrungswelten öffnen, die zu mehr Liebe und Frieden führen können.

Ich warte immer noch. Versuche mich zu entspannen. Der Haltepunkt ist gänzlich ausgestorben.

Warten ist eine der spirituellsten Übungen überhaupt, aber für mich auch eine der schwersten.

Ich hasse es auf etwas warten zu müssen, aber zu warten, ohne zu wissen worauf, ist geradezu eine übermenschliche Geduldsprobe. So ähnlich stelle ich mir die Prüfungen in den alten Mysterienstätten vor, durch die die Zöglinge auf die höheren Weihen vorbereitet wurden. Bekannt sind die Feuer-, Wasser- und Luftprobe im alten Ägypten, wo es darum ging, in gefährlichen oder unbekannten Situationen Seelenstärke und Gelassenheit zu entwickeln, um den ungewohnten und erschütternden Erlebnissen der Einweihung standzuhalten.
Tatsächlich ist der Bahnhof ein Ort, der wie kaum ein anderer geeignet ist, das Warten zu üben, ein Ort, an dem üblicherweise gewartet wird und wenig Aufregendes von diesem Wartezustand ablenkt.
Viele Menschen füllen diese Wartezeit mit Essen, Rauchen oder Lesen aus, einige scheinen traumverloren ihren Gedanken nachzuhängen. Sie wirken abwesend, nicht wirklich präsent.

Bei der Suche nach Erleuchtung geht es um eine andere Art des Wartens, eine, die eine totale Achtsamkeit erfordert. Erleuchtung hat etwas mit Bewusstheit zu tun, mit Präsenz bis in die Zehenspitzen hinein. Warten ohne Er-wartung, ohne Anhaftung an bestimmte Vorstellungen oder Resultate, das ist Freiheit! In diesem Zustand der wachsamen Gegenwärtigkeit ändert sich schlagartig die Wahrnehmung. Das Bewusstsein vertieft sich bis in die Körperprozesse hinein und erweitert sich gleichzeitig in den Umkreis hinaus. Wann haben wir schon Gelegenheit, uns auf eine solche Bewusstseinsübung einzulassen? Wenn der Alltag uns mit seinen Forderungen beherrscht, wir uns selber hinterherlaufen und unseren Terminplan erfüllen wollen, sind die Bedingungen denkbar ungünstig. Dagegen bietet das Warten auf das Eintreffen eines Zuges eine einzigartige Gelegenheit, diese unverhofft geschenkte Wartezeit mit lebendiger Präsenz zu erfüllen, vorausgesetzt, man ist nicht in Gedanken auf das erwartete Ereignis fixiert.

Ich gestehe, dass ich dazu neige, sehr leicht in eine solche Fixierung zu geraten. Dann werde ich ungeduldig, nervös, wütend oder ängstlich, je nachdem was von dem Eintreffen des Ereignisses abhängt.

Die Deutsche Bahn übertrifft in dieser Hinsicht jeden spirituellen Lehrmeister.

Sie verlangt einem Reisenden unerbittlich und schonungslos Warte-Übungen ab, die für normale Sterbliche unerträglich sein können. Allein für Erleuchtungswillige erschließt sich der geheime Sinn dieser Prüfungen. Heute kann ich allerdings die nun erscheinende Anzeige, dass der Zug voraussichtlich zehn Minuten später eintreffen wird, gelassen hinnehmen und die Wirkung dieser Botschaft auf die Wartenden studieren. Sie stöhnen, schimpfen, fluchen, verdrehen die Augen oder starren resigniert vor sich hin. Einige nehmen es mit Humor und erzählen sich gegenseitig ihre Erlebnisse mit der deutschen Bahn.

Leute, kapiert ihr denn nicht, dass es sich hier um eine spirituelle Übung handelt?

Ich gehe für heute nach Hause, bereichert um Einsicht, dass ein Bahnhof sich als Ort des Wartens besonders gut eignet, um Gegenwärtigkeit zu üben.

(Fortsetzung folgt)

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