Der kleine Adler in der Wiederkäuerschule
III
Herr Hornochs war allmählich ratlos. Die kleinen Wiederkäuer hatten schon die meisten Buchstaben gelernt und einige konnten sie sogar schon aneinanderreihen und mühsam die ersten Worte lesen. Nur der kleine Adler hatte noch keinen einzigen Buchstaben begriffen. „Wenn du nicht lesen lernst, wirst du niemals wissen, was in der Zeitung oder in einem Buch steht!“ sagte der Lehrer vorwurfsvoll. Der kleine Adler schaute ihn böse an. Am nächsten Tag brachte er eine Zeitung mit und las dem erstaunten Lehrer die Katastrophenmeldungen aus aller Welt vor. „Nanu! Woher kannst du denn plötzlich lesen?!“ rief Herr Hornochs völlig überrascht aus. „Ich wollte eben mal wissen, was in der Zeitung steht!“ gab der kleine Adler frech zurück.
Die anderen kicherten. Herr Hornochs wurde rot und ärgerte sich.
IV
Eines Tages trat der Lehrer mit geheimnisvoller Miene ins Klassenzimmer. „Heute lernen wir Rechnen,“ verkündete er. Dann verteilte er kleine Säckchen mit Haselnüssen. Jeder bekam 20 Nüsse. „So,“ sagte Herr Hornochs, als er alle Säckchen ausgeteilt hatte, „nun nehmt ihr in eure linke Hand drei Nüsse und in die rechte vier.“ Anschließend ging er durch die Reihen, um zu kontrollieren, ob alle seine Anweisungen befolgt hatten. Dem kleinen Adler wurde die Zeit schon viel zu lang, bis der Lehrer endlich fragte: „So, wenn ihr nun die Nüsse aus der linken Hand mit denen aus der rechten Hand auf einen Haufen tut, wieviel…“ „Sieben!“ platzte der kleine Adler heraus. Der Lehrer schaute ihn missbilligend an. „Du hast zwar Recht,“ sagte er, „aber wenn du in der Schule etwas sagen willst, musst du dich vorher melden.“ Bei der nächsten Frage hob der kleine Adler gehorsam seinen Flügel, bevor er die Antwort in den Raum krähte. Der Lehrer bemühte sich, geduldig zu bleiben. „Du musst dich nicht nur melden,“ sagte er, „sondern auch warten bis du aufgefordert wirst, zu antworten!“ „Ja.“ sagte der kleine Adler folgsam.
Auch auf die dritte Frage wusste er gleich die Antwort. Er meldete sich und wartete. Der Lehrer wartete auch. Hatte er die Meldung etwa übersehen? „Ich..“ begann der kleine Adler. „Nicht immer nur du!“ wies ihn der Lehrer zurecht. „Die anderen müssen auch mal drankommen!“ Nach und nach hoben einige Kälbchen die Hufe.
Immer nur einer durfte die Antwort sagen. Das war sehr ermüdend für den kleinen Adler. Er ließ seine Blicke umherschweifen. Da sah er draußen vor dem Fenster zwei Walnussbäume. Das brachte ihn auf eine Idee: flugs war er fast unbemerkt aus dem Fenster geflattert und begann, die Nüsse auf den Bäumen zusammenzuzählen.
Als er nach einer Weile wieder hereinflog und sich auf seinen Platz setzte, bemerkte das der Lehrer. „Wo warst du?“ fragte er streng. „Draußen auf den Nussbäumen!“ sagte der kleine Adler stolz. „Ich habe alle Nüsse zusammengezählt!“ „Wenn du rausgehen willst, musst du vorher fragen, das ist nur in dringenden Fällen erlaubt.“ wies ihn der Lehrer zurecht. „Auf dem einen Baum sind 487 Nüsse und auf dem anderen 512!“ beeilte sich der kleine Adler zu sagen. „Das sind zusammen 999!“
„Walnüsse hin oder her!“ schimpfte der Lehrer. „Wir rechnen hier nur mit Haselnüssen und auch nur bis 20!“ Der kleine Adler schwieg erstaunt. Schätzte der Lehrer etwa seine Rechenkünste nicht?
V
Es fiel dem kleinen Adler schwer, sich auf seinem Platz zu halten und aufzupassen. Die eintönige Stimme des Lehrers war so einschläfernd! Um sich wach zu halten, flatterte er immer wieder umher. Es gab so viel zu entdecken, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Selbst die gewöhnlichsten Dinge hatten- von einer anderen Seite betrachtet- ein völlig neues Gesicht. Herr Hornochs sah z.B. von oben oder von hinten ganz anders aus als von vorne, richtig witzig, fand der kleine Adler. „Hahaha…“ prustete er plötzlich los, und alle drehten sich erstaunt zu ihm um. Der kleine Adler wurde verlegen.
„Was ist los?“ fragten die anderen. „Warum lachst du?“ „Herr Hornochs sieht so lustig aus von hinten! Hahaha!“ Nun lachten fast alle, aber der Lehrer lief rot an und wurde sehr böse. „Du ungezogener Bengel, bleibst du wohl auf deinem Platz sitzen und bist still!“ brüllte er.
Der kleine Adler erschrak. Hatte er etwas falsch gemacht? Er wollte doch nur ein bisschen Spaß haben und die anderen aufheitern, die mit stumpfsinnigen Gesichtern über ihren Aufgaben brüteten. Der Unterricht war wahrhaftig fad genug und er dachte, auch dem Lehrer täte eine kleine Aufheiterung gut. Kränken oder erzürnen wollte er ihn ganz gewiss nicht! Aber der Lehrer verstand keinen Spaß!
Nach dem Unterricht packte er den kleinen Adler roh am Flügel und zog ihn den Gang entlang bis zum Zimmer des Direktors. Oberstudiendirektor Dr. Kast saß hinter seinem großen Schreibtisch und blickte über den Rand seiner Brille. Der kleine Adler sah den Direktor neugierig an, während Herr Hornochs sich über ihn beklagte. „Bist du ein Löwe oder ein Stier?“ entfuhr es ihm, noch bevor Herr Hornochs seine Rede beendet hatte. Dem Direktor schwoll die Zornesader auf der Stirn. „Was fällt dir ein?!“ brüllte er los. Der kleine Adler schrak zusammen.
„Sperren Sie ihn eine Stunde lang ein!“ befahl der Direktor nun Herrn Hornochs. „Dann kann er über seinen Ungehorsam nachdenken!
Als die beiden draußen waren, wischte sich Herr Dr. Kast den Schweiß von der Stirn. „Hoffentlich hat Herr Hornochs nichts bemerkt!“ dachte er. Er verwandte nämlich jeden Morgen große Sorgfalt darauf, seine beiden abgesägten Hornstümpfe unauffällig unter der Löwenperücke zu verbergen. Nur dadurch hatten die anderen Lehrer Respekt vor ihm. Nichszudenken, was passieren würde, wenn sie ihn als ihresgleichen erkennen würden! Er würde seine Macht verlieren, ohne die er so hilflos war, denn als Stier war er außerordentlich klein geraten…